Antigone

Der italienische Komponist Tommaso Traetta (1727-1779) taucht wohl in keinem Opernführer auf. Zwar war der Italiener im 18. Jahrhundert einer der großen Opernreformer neben Gluck, geriet jedoch später in Vergessenheit.

Seit einer vielbeachteten Einspielung seiner "Antigona" im Jahre 1999 taucht Traettas Name inzwischen häufiger in den Spielplänen auf. Auch die junge Berliner Opernkompanie NOVOFLOT hat sich des Werkes angenommen und es im italienischen Original und in einer erfrischenden Inszenierung in den Sophiensaelen vorgestellt. Der Mythos um die Labdakiden, die Nachkommen des Ödipus', ist bekannt: Die Brüder Eteokles und Polyneikes kämpfen um die Herrschaft in Theben und töten sich gegenseitig; ihr Onkel Kreon wird König. Er verbietet die Bestattung des Aufrührers Polyneikes unter Todesstrafe - doch Antigone, die Schwester des Toten, wiedersetzt sich.

Im Libretto von Marco Coltellini kommt es nicht zur Tragödie - der bei Sophokles Antigone, ihr Verlobter Haimon und dessen Mutter zum Opfer fallen. In Traettas Oper gibt es ein Happy End: Kreon verzeiht; Antigone und Haimon heiraten. Mit viel Spaß und Einfallsreichtum gehen die jungen Künstler die ernste Materie an. Die Begrenzung durch den Raum (den Festsaal der Sophiensaele) und durch das eingeschränkte Budget einer Off-Produktion zwingt zu unkonventionellen Lösungen. Was an einer großen Oper mit viel Pyrotechnik und Kulissenzauber in Szene gesetzt werden kann, wird hier durch geschickten Videoeinsatz, mit klugem Symbolismus und in schlicht-praktischer Ausstattung dargestellt (Bühne: Leonie von Arnim, Kostüme: Daniela Selig). Die innovative Einbindung und Nutzung der Technik (Video: halbbild), das Spiel mit unterschiedlichsten Formen, Gattungen und Referenzen, verbunden mit einem schelmischen Augenzwinkern, ist ein Merkmal dieser Inszenierung.

So verlegt Regisseur Sven Holm die Verbrennung und Bestattung des Polyneikes auf die im Hintergrund von der Decke hängende Videoleinwand. Antigone (Gesa Hoppe) verlässt die Bühne, um wenig später, mit kleiner grüner Gartenschaufel und Benzinkanister bewaffnet, im Video aufzutauchen. Im Hof der Sophiensaele steigt sie in einen roten Opel GT und fährt mit der Leiche (symbolisiert durch ein Schild mit der Aufschrift Polinice) - vorbei an den großen Opernhäusern der Stadt - irgendwo in die Wildnis, um den Toten zu verbrennen. Gleichzeitig läuft die Handlung auf der Bühne weiter; dort singt Hanna Dóra Sturludóttir als Ismene eine Arie, in der sie die Furcht um ihre Schwester Antigone ausdrückt. So wird diese Nummer der Opera seria zum kommentierenden Off-Text zur eigentlichen Handlung, zum Verbrechen Antigones. Wenn Gesa Hoppe wieder die Bühne betritt, während sie im Video noch am Feuer zu sehen ist, dann bewirkt diese Zeitverschiebung eine reizvolle Umdeutung der Videoeinspielung zur Rückblende. Hier ist also viel filmischer Einfluss zu sehen, und die vom Film gelernten Erzähl- und Zeigetechniken werden souverän und geschickt für die Kunstform Oper genutzt. Mit großer szenischer Fantasie bebildert die Regie nicht nur, sondern schneidet Szenen übereinander, lässt kontrastieren und kommentieren und erweitert so auf höchst spannende und unterhaltsame Weise den Darstellungsapparat der Oper.

Erfrischend ist auch der in Opernproduktionen sonst leider viel zu seltene Humor, mit dem die jungen Künstler inszeniert haben und jetzt spielen, ohne dass sie dabei die Figuren und ihre Geschichte veralbern oder denunzieren. Die Menschen auf der Bühne und im Orchester haben sichtlich mindestens genau so viel Spaß wie das Publikum, und das verleiht dem Abend eine ganz eigene zusätzliche Dynamik. Auch musikalisch kann sich diese "Antigone" sehen lassen: Traettas schwungvolle, vielschichtige, gelegentlich an Mozart erinnernde Musik ist hier in hoher Qualität und in sehr guter Akustik zu hören. Die durch den opernuntypisch kleinen Raum entstehende Nähe des Publikums zu den Musikern/Darstellern und die Kammerbesetzung haben einen ganz eigenen Reiz und erzeugen eine besondere Atmosphäre. Alle Solisten und Solochoristen sind ausgebildete Profis, für die Szene "Friedensfest" wurde zusätzlich ein Massenchor aus Laien gebildet, der eindruckvoll die Bühne füllt und auch sängerisch sehr überzeugt (Chorleitung: Fausto Nardi). Das etwa 20-köpfige Orchester unter der Leitung Vicente Larranagas spielt transparent und mit viel Schwung.

Die Solisten, denen in dieser schnellen Inszenierung auch körperlich einiges abverlangt wird - bis zur Prügelei während des Singens - meistern ihre Rollen hervorragend. Dann und wann kommen minimale Fehler, kleine Intonationsmängel vor, doch die gibt es - oft in gravierenderer Form - auch an den renommiertesten Opernhäusern. Eine kluge, durchdachte Dramaturgie (Sebastian Bark) rundet das positive Gesamtbild bis hin zum geistreich-witzigen Programmheft ab. Ein rundum schlüssiger, gelungener, unterhaltsamer und intelligenter Opernabend.

Nora Mansmann

Link:
Opernkompanie NOVOFLOT