Castorf-Inszenierung im Palast der Republik

Berlin Alexanderplatz

05.07.2005

Endlich ist Franz Biberkopf zurückgekommen, dorthin, wo er hingehört: Frank Castorfs Inszenierung von Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«, zunächst 2001 in Zürich aufgeführt, wird endlich in Berlin gezeigt. Nicht auf dem Alexanderplatz, sondern gleich nebenan, im skelettierten Palast der Republik, dessen endgültige Demontage gerade beschlossen wurde.

Und die Geschichte von Franz Biberkopf, der aus dem Gefängnis kommt und sich vornimmt, anständig zu sein, aber fast zwangsläufig immer wieder in Schwierigkeiten gerät, passt in unsere Zeit und sie passt an diesen Ort. Die Krisen der späten 20er Jahre unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von den gegenwärtigen. Doch damals wie heute: Die Zeiten sind schlecht, das vorherrschende Gefühl: Wir sind Verlierer. In einem Spiel, das wir nicht selbst entscheiden.

Natürlich siedelt Castorf den Franz Biberkopf im Heute an. Die Männer hocken auf weißen Plastikstühlen und besaufen sich, die Frauen tragen kurze Kleidchen und Pelzmäntel. Die Nutten kommen aus Russland. Sie alle tummeln sich in einem Bühnenraum von Bert Neumann: Container, Sperrholz, Leuchtkörper. Alles wie immer?

Ungewöhnlich für den Volksbühnenchef ist die sehr stringente und chronologische Erzählweise dieses Abends, der auf einer Inszenierung in Zürich von 2001 basiert. Tatsächlich scheint es, als sei Castorf zurückgegangen in der Zeit: Es gibt kaum Live-Video, keine Kameramänner, keine große Leinwand, auf zwei beinahe versteckten Fernsehschirmen läuft fast nur Werbung oder Fußball. Und auch die Regie selbst macht einen Schritt zurück zu alten Werten: Strukturen, Figuren, Geschichten.

So sehr dies das Verfolgen des Bühnengeschehens erleichtert, vermisst man dabei aber doch die Polyphonie des Romans, den »Sound der Großstadt«, der sich bei Döblin aus den verschiedensten Quellen und Schichten speist, zwischen denen sich der Erzähler mit größter Virtuosität bewegt: ständig seinen Standpunkt und damit die Perspektive wechselnd. Angesichts der Vorlage, die solche Freiheit, solch eine Spielwiese bietet, ist es erstaunlich, dass Castorf fast ausschließlich auf Franzens Perspektive reduziert. Der grandiose Max Hopp in der Hauptrolle kann das zwar durchaus schultern, es ist aber doch ein Verlust gegenüber dem Roman, zumal die Stadt als Gegenspielerin des Franz Biberkopf und »Hure Babylon« bei Castorf kaum noch vorkommt.

Wie so oft bei Castorf hat der Abend von 5 Stunden seine Längen, zwischendurch wünscht man sich, jemand hätte sich getraut, mehr Striche durchzusetzen. Doch dann fehlte die körperliche Erfahrung des Theaters als kalkulierte Erschöpfung auch des Zuschauers, ohne die am Ende, wenn endlich alles überstanden ist, ein Castorf-Abend doch kein echter Castorf-Abend ist. Und Schauspielern wie diesen kann man ohnehin nicht lange genug zuschauen.

Die Besetzung ist bunt gemischt, Volksbühnen-Veteranen, Zürcher Personal und auch ein paar neue Gesichter für das Berliner Publikum. Trotz Castorfs Tendenz, Frauenfiguren nur als Kleiderständer und halbnackte Sexobjekte der Männer ohne eigenen Charakter darzustellen: Bibiana Beglau und Iris Minich spielen – in verschiedenen Rollen – Frauenfiguren, die selbst etwas wollen, die kämpfen, die leiden und die dabei – wohltuende Abwechslung – gelegentlich auch mit Empathie betrachtet werden und nicht nur mit kaltem Blick und nur durch die Augen der Männer. Ludmilla Skripkina und Rosa Galina als russische Nutten hingegen bedienen zwangsläufig die Klischees und bleiben dabei zwangsläufig blass, auch weil sie fast ausschließlich Russisch parlieren.

Bei Marc Hosemanns Kleingangster Reinhold, der Biberkopf vernichten will und doch immer wieder so sympathisch hilflos und stotternd daherkommt, schwankt der Betrachter zwischen Mitleid und Abscheu. Alexander Scheer spielt Franzens Freund Herbert, der es wirklich gut mit ihm zu meinen scheint, was man Scheer, sonst auf den zynischen Jüngling abonniert, gar nicht recht abnehmen will – das macht die Sache aber nur spannender. Und Scheer spielt unglaublich expressiv und gleichzeitig extrem präzise, etwa im Dialog zwischen Hiob und Satan, wo er beide Rollen übernimmt.

Am Ende kommt Herbert Fritsch, zuvor in verschiedenen Rollen zu sehen, als Tod im schwarzen Anzug auf die Bühne. Der sagt Franz Biberkopf jetzt mal ins Gesicht, wie's ist, und Franz, der vielleicht endlich begreift, der wimmert um etwas mehr Zeit. Doch Herbert Fritschs Tod, mit dem Publikum scherzend, nimmt sich das Herz des Franz Biberkopf. Er stellt lässig die Barhocker an der Imbisstheke hoch. Dann legt er das Herz in die Fleischvitrine und beginnt zu tanzen.

Nora Mansmann

Link:
Berliner Festspiele