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Berliner Platz (04): Aktive Geschichtsschreibung

In der Nacht, in der die DDR verschwand, war ich am Brandenburger Tor und habe die Mauer zerstückelt; als Christo den Reichstag verhüllte, habe ich in der Abendsonne auf dem Rasen davor, der sich eigentlich schon nicht mehr Rasen nennen durfte, da ihn die Heerscharen von Schaulustigen in ein braunes Elend verwandelt hatten, ein Picknick gemacht. Ich habe mitverfolgt, wie aus dem ehemaligen Todesstreifen erst das größte Loch Europas und dann ein fantastisches Sammelsurium imposanter Gegenwartsarchitektur wurde, welches auf herrlich unverbindliche Weise Ost und West schlussendlich doch noch vereint hat.

Ich habe die letzten alliierten Truppen mitverabschiedet, habe auf der größten Straßenparade der Welt getanzt, und zum Jahrtausendwechsel zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor, das exorbitanteste Feuerwerk Europas bestaunt.

Meine Kindheit wurde geprägt von Ereignissen, über die erst in den Zeitungen und später in den Geschichtsbüchern zu lesen war. Sowohl in London, in Edinburgh als auch in Paris habe ich die Spuren großartiger Ereignisse der Geschichte gesehen, aber in Berlin war ich dabei, als sie hinterlassen wurden und diese Erlebnismächtigkeit, die mir damals so unspektakulär erschien, versetzt mich heute oft in ungläubiges Staunen und ruft manchmal sogar ein wenig ehrfürchtige Dankbarkeit in mir hervor. Nirgends sonst ist es mir so selbstverständlich und unbeschwert erschienen, einen Teil der Geschichte mitzuerleben wie hier.

Sicherlich hat die Stadt auch ihre Macken: Berlin-spezifische Besonderheiten wie das Pöbeln entnervter Busfahrer, oder die zumeist auch mit vollem Einsatz roher Gewalt in Form von Schubsen und Treten erfolglosen Versuche in U- und S-Bahnen einzusteigen, würden bei jedem normalen Engländer schieres Entsetzen auslösen, während die Tatsache, dass Supermärkte in der Hauptstadt Deutschlands sowohl nach 20 Uhr als auch an den meisten Sonn- und Feiertagen ihre Pforten hermetisch verriegelt halten, von den meisten Franzosen bestenfalls mit einem mitleidigen Lächeln, eher aber mit einem verständnislosen Kopfschütteln quittiert werden würde.

Aber nach einer halben Dekade uneingeschränkter englischer Höflichkeit, die zwar zugegebenermaßen niemand beleidigt, aber auch niemand wirklich glücklich macht, und der eher unfreiwilligen Erkenntnis, dass auch die durchaus verlockend klingende Möglichkeit, an einem Sonntag abend noch schnell die Zutaten für ein kurzfristig geplantes Abendessen mit Freunden besorgen zu können, ihren Reiz verliert, wenn sich keiner der 6 Millionen Einwohner von Paris sich dazu herablässt, sich mit einer einsamen (jedoch durchaus kontaktfreudigen) Ausländerin anzufreunden, bin ich zu der unumstößlichen Erkenntnis gekommen, dass die Berliner Besonderheiten doch das weitaus kleinere Übel sind.

Von meiner Zeit im Ausland mochte ich keine Sekunde missen, doch Berlin ist schon ein einmaliges Fleckchen Erde, ein bunt zusammengewürfelter Mikrokosmos, von dem ich nie aufhören möchte, ein Teil zu sein.

Damit stellt sich Tanja Klein vor, die 1981 in Berlin geboren wurde und seit 1998 in Canterbury, London, Paris und Edinburgh lebt, sich aber trotzdem weiterhin als Berlinerin sieht.

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