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Beth Gibbons & Rustin Man: Out of Season

Die Gruppe Talk Talk ist heutzutage leider immer weniger Menschen bekannt, und wenn, dann höchstens mit ihren New Wave-Stücken der frühen 80er Jahre, mit denen sie im Umfeld von Duran Duran recht großen Erfolg hatten. Doch Synthiepop war nicht unbedingt die Musikrichtung, die sich Bandleader Mark Hollis auf Dauer für seine Gruppe vorstellte, und so folgte im Jahr 1988 mit dem Album "Spirit of Eden" ein Stilbruch, der Musikgeschichte schrieb. Statt 80er-Pop präsentierte die Band sehr zum Entsetzen der eigenen Plattenfirma und zur Bestürzung vieler Fans ein Album, das aus dem Material mehrstündiger Instrumental-Sessions zusammengesetzt und noch am ehesten dem Jazz-Bereich zuzuordnen ist. Es beeindruckt noch heute mit einer unglaublichen Dichte und darf als ein Meisterwerk der Independent-Musik bezeichnet werden.

Beth Gibbons und Rustin Man
Foto: Polydor
Kurze Zeit später verließ Paul Webb, der Basser von Talk Talk die Band und konzentrierte sich ganz auf die Arbeit seiner eigenen zweiköpfigen Formation ‚O'Rang, die die musikalische Nähe zum so vergeistigten Spätwerk von Hollis nicht leugnen kann. Als für ‚O'Rang einmal eine Gast-Solistin gesucht wurde, stellte sich auch eine damals gänzlich unbekannte Sängerin vor: Beth Gibbons, die erst 1995 als Stimme und Markenzeichen von Portishead, dem melancholischen Triphopwunder aus Bristol in Erscheinung treten sollte. Der Kontakt zwischen Webb und Gibbons riss seitdem nie ab, und aus der Freundschaft heraus entstand der Wunsch, auch einmal gemeinsam ein Album aufzunehmen. 1998 nach Beendigung der jeweiligen Band-Verpflichtungen gingen die beiden an die Arbeit, in der Hand nichts weiter als zwei fertig konzipierte Songs und einige lose Ideen.

Vier Jahre später liegt nun mit "Out of Season" das fertige Ergebnis vor und wird den Erwartungen, die sich im Vorfeld der Veröffentlichung immer höher schraubten, durchaus gerecht. Immer wieder wurde auf die geistige Herkunft der beiden Künstler verwiesen, Beth Gibbons als personifizierte Zerbrechlichkeit und Melancholie, die den Triphop-Gebilden von Portishead ihre ganz eigene, verstörende Wirkung gibt, und Paul Webb als Klangmagier der stilleren und experimentellen Sorte. Für viele stand die Richtung des Albums mit einer klaren Tendenz zur teils opulenteren Klanglichkeit von Portishead schon fest. Doch sie sollten überrascht werden.

"Out of Season" ist ein überaus intimes Werk geworden, aus dem die pure Innigkeit der musikalischen Empfindung spricht. Auch bei diesem Album zerfließen die Genre-Grenzen, man könnte im weiteren Sinne von einer Mischung aus Jazz- und Folk-Elementen sprechen, ohne der Klanglichkeit mit ihren einfachen Mitteln wie Akustik-Bass und -Gitarre vollständig gerecht zu werden. Die lange Produktionszeit führte zu einem hörbaren Durchlaufen verschiedener Stile, die jedoch alle auf den Bereich der Ballade beschränkt bleiben. Kein einziger Beat dringt innerhalb der dreiviertel Stunde ans Ohr des verzückten Hörers - man ist gefangen in einer traumhaft-melancholischen Stimmung und der Titel des Albums kann so wunderbar als eine Umschreibung des Zustandes gelten, in den man beim Hören gerät: es ist ein Aus-der-Zeit-fallen. Und doch hat man nicht nur durch das textliche Leitmotiv der Jahreszeiten ein Gefühl für Zeitabläufe, die musikalische Stimmung vermittelt einem immer wieder Eindrücke von Wintermelancholie und der gedämpften Stimmung des Spätsommers.

Über allem thront die Stimme von Beth Gibbons, die auf diesem Album zeigt, was für eine enorme Bandbreite des Ausdrucks in ihr steckt. Manchmal meint man, von einem Titel zum anderen wechsele auch die Sängerin. Und so umschmeichelt sie einen im Eingangstrack "Mysteries" mit sanfter, von Backings getragener Stimme, um im nächsten Moment in "Tom the Model" eine kraftvolle Performance im fast schon opulent zu nennenden Big Band-Arrangement zu geben, um einem in "Romance" wiederum mit fast parodistisch verfremdeter Stimme die Vertracktheit der Liebe beizubringen. Zum Ende hin wird das Album nach all den traumwandlerischen Jazz-Arrangements fast noch ein wenig psychedelisch. Bevor mit "Rustin Man" ein leicht sperriger, verzerrt-zerklüfteter Elektro-Schlusstrack das Album beendet, entführt einen "Funny Time of Year" mit seiner intensiv gesteigerten Stimmung noch einmal ganz tief in das melancholische Universum, dem sich die beiden Künstler vier Jahre lang verschrieben haben und aus dem wie vom Wind herüber getragen eines der schönsten und größten Alben der letzten Zeit in unsere Welt kommt.

Jens Lehmann

Wir bedanken uns bei Polydor für das Bereitstellen eines Rezensionsexexmplares.

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