Es ist gefährlich

Der russische Dichter Daniil Charms ist vor allem für seine grotesken Miniaturen bekannt, die oft nur wenige Zeilen lang sind und gern mit einem lakonischen "Das ist eigentlich alles" enden. So lustig die Texte auf den ersten Blick sein mögen, so haben sie doch immer auch einen ambivalenten Charakter, nicht nur bei Kenntnis von Charms' Lebensgeschichte, die 1942 in einem sowjetischen Gefängnis im eingekesselten Leningrad endete.

Humor, Absurdität und Brutalität liegen hier dicht beieinander. Der Regisseur und Komponist Ruedi Häusermann hat mit fünf Schauspielern und einer Gruppe Musikern einen "Keinakter" mit Texten von Daniil Charms inszeniert, der am 30.5. zu ersten Mal im Berliner HAU 1 zu sehen war.

Der Abend beginnt wie eine Lesung. Die fünf Schauspieler stellen sich vor und nehmen auf der Bühne, die einem Möbellager ähnelt, an Lesetischen Platz. Wie zur Vorstellung lesen sie zunächst abwechselnd einige kurze Texte, anschließend bringen die fünf Darsteller kurze Charms-Vertonungen von Ruedi Häusermann auf einem "wohlpräparierten Disklavier" zu Gehör, das die wunderlichsten Geräusche von sich gibt. Als Isabelle Menke, Hans-Rudolf Twerenbold, Angela Müthel, Moritz Dürr und Herwig Ursin danach wieder an ihren Lesetischen Platz nehmen, tauchen unvermutet aus der Dunkelheit der hinter ihnen liegenden Möbelhalde bisher unsichtbare Personen auf: es sind die Figuren aus den vorgetragenen Texten, die sich langsam und lautlos bewegen und mit sparsamen Gesten in Beziehung zu dem Gelesenen treten, ohne es nur zu illustrieren. Dazu erzeugt das präparierte Klavier klackernde oder klirrende Töne, und die Menschen auf der Bühne ergänzen den sphärischen Geräuschteppich durch vielstimmiges Summen.

Ruedi Häusermann ist ein langjähriger Weggefährte Christoph Marthalers, und das sieht man diesem Abend deutlich an. Er besitzt viele Elemente, die auch für Marthalers Ästhetik bestimmend sind: einfallsreiche Musikalität, Wiederholungen, Langsamkeit, Minimalismus, ja selbst die Bühne (Karin Süss und Ruedi Häusermann) erinnert an Anna Viebrocks Welten. Die alten Möbel, die wie Sperrmüll zusammengedrängt sind und die Personen, die wie in Zeitlupe zwischen ihnen auftauchen, verbreiten eine morbide, fast gespenstische Atmosphäre. Dazu widerspiegeln Daniil Charms' Texte, bei allem grotesken Humor, mit ihren immer wieder grundlos ausbrechenden Gewaltexzessen die tägliche Bedrohung durch willkürliche, nicht berechenbare Brutalität, wie sie der Dichter im stalinistischen Sowjetstaat erlebte. Wenn auch bei Charms diese politische Dimension nie ausgesprochen wird, ist sie als Hintergrund doch deutlich zu spüren, und am Ende des Abends stellt Häusermann diesen Bezug zu Charms eigenem (Er)leben eindrücklich her.

Deutlich wird im Verlauf des Abends eine Entwicklung vom Einfachen zur Komplexität: Wurden zunächst Charms' Texte pur gelesen vorgestellt und im nächsten Schritt durch das Spiel der Menschen im Hintergrund ergänzt, so folgt darauf nun noch eine erweiterte Spielversion. Die Möbel verschieben sich wie von Geisterhand (sie sind an dicken, vorläufig nicht sichtbaren Drahtseilen befestigt) und bilden eine russische Stube, in der die fünf Schauspieler die zuvor vorgestellten Texte szenisch umsetzen. Dabei können sie mit ihrem Textmaterial und mit den Figuren frei spielen, einzelne Szenen ineinander verschränken und immer wieder die Rollen wechseln, ohne dass im Publikum Verwirrung aufkommt, da die Texte aus dem bisherigen Verlauf des Abends bereits bekannt sind. Dank der fantasievollen Umsetzung kommt trotzdem keine Langeweile auf, vielmehr entsteht eine Spannung, eine Neugier auf weitere Möglichkeiten.

Der Abend kulminiert schließlich in einer verbalen Verhaftungsszene, in der die fünf Schauspieler durch riesige Flüstertüten Satzfragmente in den Raum sprechen, während sie im Orchestergraben oder über die Seitenbühne verschwinden: "Mitkommen!" - "Mit dem Stiefel in die Fresse...". So stellt Ruedi Häusermann nun eindeutig den Bezug her zu Charms' Biografie, die durch Schwierigkeiten mit der sowjetischen Obrigkeit und mehrfache Verhaftungen geprägt war und schließlich mit seinem Tod im Gefängnis endete. Während die Schauspieler im Dunkeln verschwinden, erklingt wie ein Requiem von der Hinterbühne John Taverners Komposition "The Hidde Face" für Countertenor, Oboe und kleines Streichorchester, gesungen von Michael Hofmeister.

Trotz der erwähnten Ähnlichkeiten zu Christoph Marthalers Ästhetik ist dieser Abend ein sehr eigenständiges Werk, das viele Elemente vereint und gleichzeitig sehr unterhaltsam und dennoch nicht platt daherkommt. Wunderschön ist die bei allem Humor zugrundeliegende leise Melancholie, die sich nicht nur aus dem Wissen um die Entstehungsgeschichte der Texte speist, sondern auch tief in der Atmosphäre des Abends wurzelt - wenn das auch einige Zuschauer anders aufzufassen scheinen, und ihre Heiterkeitsausbrüche selbst an sehr traurigen, (be)sinnlichen oder bitteren Sellen nicht zügeln können. Trotz dieser ziemlich penetranten Störungen, die verhinderten, dass man sich immer ganz auf das Geschehen auf der Bühne einlassen konnte, war die Premiere von "Es ist gefährlich über alles nachzudenken was einem gerade einfällt" im HAU 1 ein gelungener Theaterabend.

Nora Mansmann