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Jungautor und Zitty-Chef Matthias Kalle im Interview

»Ich lehne es ab, wenn Leute von Glück sprechen, wenn es wirklich harte Arbeit war«

Matthias Kalle war Autor beim jetzt-Magazin, Kolumnist beim Berliner Tagesspiegel, Autor bei Neon und ist nun nicht nur neuer Chefredakteur der Zitty, sondern auch ein erfolgreicher Buchautor (»Verzichten auf«). Mit 28! Wer seine Texte nicht kennt, der hat noch nicht gelesen. In seinem Büro mitten in Berlin stand er brainstorms Rede und Antwort.

brainstorms: Gab es zu Schul- oder Unizeiten Leute, die Dich einen Streber genannt haben?

Matthias Kalle: Nein, ich war alles andere als ein Streber. Ich war eher der Raucherecken-Junge, also einer von denen, die dort ihre Hausaufgaben abgeschrieben haben.

brainstorms: Aber es gab doch bestimmt Fächer, in denen Du richtig gut warst?

Matthias Kalle
Foto: Kiepenheuer & Witsch
Matthias Kalle: Ach, ging so. Zu Schulzeiten gab es vor allem Mädchen, die in Deutsch besser waren als ich. Das lag auch daran, dass ich immer wieder die Bücher, die besprochen wurden, nicht gelesen habe, weil es mich nicht interessiert hat. Mir ging auch dieser Interpretationswahnsinn und dieses Empfindlichkeitsgetue auf die Nerven. Richtig gut war ich eigentlich nur in Geschichte. Aber auch erst in der Oberstufe, als ich einen Lehrer bekam, der kritisches Denken akzeptierte und meine Aufmüpfigkeit beinah förderte. Aber generell war ich derjenige, dessen Mutter sich Sorgen gemacht hat, ob aus dem Jungen auch was wird.

brainstorms: Ist die Mutter denn heute zufrieden?

Matthias Kalle: Hoffentlich. Sie hätte es zwar bestimmt lieber gesehen, wenn ich mein Studium beendet hätte, aber ich denke, sie ist halbwegs zufrieden.

brainstorms: Wie erklärst Du Dir dann den Wandel vom versetzungsgefährdeten Schüler zum Buchautor und Chefredakteur der »Zitty«?

Matthias Kalle: Von dem Zeitpunkt an, als ich gemerkt habe, dass ich Journalist werden will, dass ich damit mein Geld verdienen will, habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt und an mir gearbeitet. Ich lehne es ab, wenn Leute von Glück, Schicksal oder Zufall sprechen, es war wirklich harte Arbeit.

brainstorms: Nicht nur die Medienbranche – aber gerade auch die – jammert von Krise. Hättest Du wohl mit einem abgebrochenen Studium heute noch die gleichen Chancen wie vor ein paar Jahren?

Matthias Kalle: Ja. Denn ich habe das große Glück, einen Beruf ausüben zu dürfen, für den man keinen Meisterbrief braucht und für den es keinen festgelegten Weg gibt, den man gehen muss, um erfolgreich zu sein. Man muss nicht studieren, keine Journalistenschule besuchen oder ein Volontariat machen. Man muss sich nur hinsetzen, lesen und schreiben und zusehen, dass das Feuer in einem brennt.

brainstorms: Wann hast Du dieses Feuer erstmals in Dir gespürt?

Matthias Kalle: Das war in der neunten oder zehnten Klasse, als ich das erste – und ich glaube auch einzige – Mal in Deutsch eine Eins bekommen habe. Es ging um irgendein Buch, das ich nicht gelesen habe. Und da dachte ich: Donnerwetter! Wenn das Schreiben als Solches honoriert wird, ohne dass Du dafür großen Aufwand betrieben hast, dann solltest Du schauen, dass Du mehr daraus machst. Dann wirst Du eben kein Sportler, sondern verdienst Dein Geld mit Schreiben. Ich habe zum Glück sehr schnell gelernt, dass das Schreiben alleine nicht der Job ist, es gehört so viel mehr dazu.

brainstorms: Du warst in der »Jetzt«-Redaktion, und es gibt eine nette Anekdote: Angeblich hast Du Dich damals mit den Worten »Ich bin gut« beworben.

Matthias Kalle: Das ist Unsinn. Ich habe mich nicht beworben, sondern Texte angeboten und daraufhin wurde ich dann in die Redaktion eingeladen. Diese unangenehme Geschichte erzählt Christoph Amend (damaliger Kollege und heutiger Leiter des »Sonntag«-Teils im »Tagesspiegel«) immer wieder gerne. Ich glaube, der Satz ist irgendwann gefallen, als wir uns sturzbetrunken in einer Bar über Journalismus unterhalten habe. Na ja, da war ich 23. So was würde ich heute ja nicht mehr sagen.

brainstorms: Wieso nicht?

Matthias Kalle: Wie klingt das denn? Als sei man ein arrogantes Arschloch.

brainstorms: Wie bist Du auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben?

Matthias Kalle: »Verzichten auf«
Foto: Kiepenheuer & Witsch
Matthias Kalle: Ich wurde vom Verlag gefragt. Es gab ja bei jetzt.de meine »Verzichten auf«- Kolumne. Die hat mit dem Buch nicht aber nicht viel zu tun, die war eher launig, erschien wöchentlich und hatte auch immer einen starken Zeitbezug. Und zuerst war da die Idee, alle Texte einfach in einem Buch abzudrucken. Aber das haben wir dann sehr schnell verworfen – wer will schon olle Kolumnen von einem Unbekannten lesen?. Dann habe ich mich zwei, drei Mal mit meiner Lektorin getroffen, und wir haben gemeinsam ein Exposé entworfen. Und nach dem dritten Exposé wollte ich es dann machen.

brainstorms: In Deinem Buch gibt es zwei zentrale Gedanken: Das Zweifeln und das Verzichten. Woran zweifelst Du und woran nicht?

Matthias Kalle: Ich zweifle ständig. An dem, was ich tue, an dem, was ich nicht tue. Ich überprüfe mich selbst dauernd. Ich zweifle zum Beispiel an jedem Cover, das ich mache. Es gibt so viele Dinge, bei denen ich nicht sicher bin: Rauchen oder Aufhören? Ist meine Wohnung schön genug? Noch ein Bier? Solche Sachen sind das, Kleinigkeiten, die man eigentlich als gottgegeben hinnehmen könnte. So was kann einen natürlich auch in die Verzweiflung treiben.

brainstorms: Musst Du als Chefredakteur auf mehr Dinge verzichten?

Matthias Kalle: Nein. Was soll ich denn auch sonst machen? Es gibt da keine »Dinge«, auf die ich verzichte, das würde ja heißen, das ich Hobbys hätte. Hab ich natürlich nicht. Freizeit wird ja auch sehr überbewertet.

brainstorms: In einem Deiner »Zitty«-Vorworte hast Du geschrieben, dass Du jemanden auf einer Party kennen lernst und das Erste, was Du zu hören bekommst, ist: »Zitty ist doch scheiße.« Was entgegnest Du solchen Leuten?

Matthias Kalle: Das sind komischerweise immer Leute, die Zitty das letzte Mal vor fünf Jahren gelesen haben, also irgendwelche zugereisten Möchtegern-Mitte-Hipster, die pauschal finden, dass das Genre Stadtmagazin unsexy sei. Dann muss man auch klar sagen, dass Zitty nichts für die ist, die sollen dann weiter »Max« lesen oder »Fast Forward« gucken.

brainstorms: Was an Zitty ist denn nicht scheiße?

Matthias Kalle: An Zitty ist gar nichts scheiße. Ich finde ja generell, das Stadtmagazin ein sehr starkes Genre ist, etwas, das eine Existenzberechtigung hat, etwas, das man tatsächlich braucht. Die Stärke der Redaktion ist, dass wir uns immer wieder die Frage stellen: Wie fühlt sich Berlin gerade? Wie fühlen sich die Menschen, die hier leben? Und das versuchen wir alle zwei Wochen zu beantworten.

brainstorms: Was unterscheidet Zitty von anderen Stadtmagazinen wie »Tip« oder »Prinz«?

Matthias Kalle: Wir sind politischer und wir versuchen, das Leben in Berlin wirklich zu beschreiben und dann, wenn es kompliziert wird, auch zu erklären. In jedem Heft zu sagen, welches die dreihundertachtzig besten Bars der Stadt sind – das machen wir nicht mehr, das interessiert mich auch nicht.

brainstorms: In einem anderen Vorwort hast Du geschrieben, dass Deine Redaktion mittags ohne Dich essen geht. Speist Du immer noch alleine?

Matthias Kalle: Oh, das tut mir wahnsinnig leid, blöde Geschichte. Meine Redakteure wurden schon von Freunden angesprochen, dass sie doch den Chef mitnehmen sollen. Das wollte ich gar nicht, dass es so einen Aufschrei des Entsetzens gibt. Sie fragen jetzt jeden Tag, aber leider kann ich nicht immer mitgehen. Aber ich war jetzt ein paar Mal mit der Redaktion essen, ich gebe also hiermit Entwarnung.

brainstorms: Schläft man als Chefredakteur schlechter, weil man nicht mehr nur für sich selbst sondern auch für ein Medium und vor allem für den Arbeitsplatz mehrerer Leute verantwortlich ist?

Matthias Kalle: Nein, ich schlafe genauso gut oder genauso schlecht, wie all die Jahre zuvor auch. Ich mache mir Abends keine Sorgen – falls es das ist, was Du meinst. Denn ich weiß, dass ich eine großartige Redaktion leite und ich hoffe, dass meine Redaktion weiß, dass mein Rücken breit genug ist, trotz meines Alters, um Dinge zu tragen und vor allem: zu ertragen.

brainstorms: Wie sieht für Dich der perfekte Zitty-Redakteur aus?

Matthias Kalle: Schau Dich um. Der perfekte Zitty-Redakteur, die perfekte Zitty-Redakteurin – die arbeiten bereits hier.

brainstorms: Wieso bist Du nach Berlin zurückgekehrt?

Matthias Kalle: Wegen des Jobs. Es war keine Entscheidung für Berlin und gegen München, es war eine Entscheidung für den Job.

brainstorms: Muss man aber nicht diese Stadt lieben, um ein Stadtmagazin zu leiten?

Matthias Kalle: Ich liebe Städte generell nicht. Man muss es lieben, ein Magazin zu machen, man muss es lieben, sich über Geschichten zu unterhalten. Man muss es lieben, mit Menschen zusammenzuarbeiten. Das ist der Job.

brainstorms: Was wäre aus Dir geworden, wenn Du es als Journalist nicht geschafft hättest?

Matthias Kalle: Keine Ahnung. Seit ich 15 bin, gab es für mich dazu keine Alternative. Ich weiß es wirklich nicht. Aber wahrscheinlich würde ich jetzt bei meinem lieben Freund Landy in Minden sitzen, wir würden Playstation spielen und langsam das erste Bier aufmachen.

brainstorms: Dein Buch war erfolgreich. Die erste Auflage wird wohl bis Jahresende vergriffen sein. Wird es ein zweites Buch geben?

Das aktuelle Heft der Zitty.
Foto: Zitty
Matthias Kalle: Ja, irgendwann bestimmt. Was soll ich auch anderes sagen? Ich finde es anmaßend und albern, wenn junge Autoren sagen »Ich habe mir alles von der Seele geschrieben und mehr will ich nicht.« Mir hat das Schreiben einfach zu großen Spaß gemacht. Aber es ist so, dass meine derzeitige Tätigkeit ein weiteres Buch nicht zulässt.

brainstorms: Die GQ hat in ihrer aktuellen Ausgabe Dieter Bohlen zum Mann des Jahres gekürt. Was hälst Du von der Medienlandschaft in Deutschland, in der Bohlen eine zentrale Figur ist?

Matthias Kalle: Die Kollegen von GQ haben da sicherlich einen Fehler gemacht: Bohlen ist vorbei, er ist keine zentrale Figur, er war es auch nie. Aber generell freue ich mich sehr, dass es gute und junge Journalisten gibt, die Sachen versuchen. Ich freue mich sehr, dass es eine zweite Ausgabe von »Neon« gibt, dass ein Schnulzensänger wie Bryan Adams Geld reinsteckt in ein Format wie »Zoo«. Klar gibt es Dinge, die überflüssig und auch schlecht sind, aber man muss es zumindest versuchen. Da sitzen Leute nicht nur die ganze Zeit im Café Einstein und jammern, dass sie keine 9000 Euro mehr verdienen.

brainstorms: Trotzdem ist auch der Trend zu Leuten wie Bohlen erkennbar. Du hast mal gesagt, dass Du Bohlens Co-Autorin Katja Kessler nicht magst.

Matthias Kalle: Das wäre verschenkte Zeit, wenn ich mich darüber aufregen würde. Ich rege mich auch nicht mehr darüber auf, dass Bayern München die meisten Fußball-Fans in Deutschland hat. Man muss einige Dinge auch einfach ertragen können.

brainstorms: In der »Zitty« wird es also keinen Artikel über Bohlen geben?

Matthias Kalle: Die Frage ist: Kann man eine spannende Geschichte über Dieter Bohlen erzählen? Und da sage ich: Nein.

brainstorms: Es ist ja schon so, dass es Leute bei »jetzt« oder auch beim Tagesspiegel gab, die explizit Deine Texte lesen wollten. Glaubst Du, dass es Leute gibt, die die Zitty Deinetwegen kaufen werden?

Matthias Kalle: Nein, denn ich schreibe ja nichts – außer die Kolumne am Anfang und die liest ja kein Mensch, dafür kauft niemand Zitty. Ich hoffe aber, dass sich einige Leute die Zitty jetzt kaufen, weil sie merken, dass da was passiert. Das passiert aber nicht allein wegen mir, sondern wegen der ganzen Redaktion.

brainstorms: Elf Redaktionen. Für einige hast Du bereits was geschrieben – für andere nicht. Und es sind wohl auch einige dabei, für die Du nie was schreiben wirst. Was fällt Dir ein zum Stichwort »jetzt«?

Matthias Kalle: »jetzt« war eine großartige Erfindung, und vielleicht die journalistisch schönste Zeit meines Lebens. Es war großartig, vom Süddeutschen Verlag die Möglichkeit zu bekommen in so jungen Jahren rumzumachen und zu probieren. Es wird wohl erst in zehn Jahren feststehen, wie viel der deutsche Journalismus »jetzt« zu verdanken hat.

brainstorms: Was sagst Du zum Tagesspiegel?

Matthias Kalle: Ich bin jeden Tag aufs Neue überrascht, was die Kollegen in einer schwierigen Zeit zustande bringen. Großartige Seite 3, großartiger Sonntagsteil, eine sehr gute Medienseite und in Berlin die beste und wichtigste Zeitung.

brainstorms: GQ?

Matthias Kalle: Neben all diesen FHM-, Maxim- und was weiß ich noch Sachen, die es leider auch gibt, ein Männermagazin, in dem wenigstens noch Geschichten stehen, die ich lesen will, die mich interessieren. Und die manchmal Fotostrecken haben, von denen ich denke: Auch schön, mal so was zu sehen.

brainstorms: »Die Zeit«?

Matthias Kalle: Der einzige Grund, am Donnerstag an den Kiosk zu gehen.

brainstorms: Neon?

Matthias Kalle: Ich wünsche den ehemaligen Kollegen alles Gute.

brainstorms: MAX?

Matthias Kalle: Ein Magazin, das kein Mensch braucht.

brainstorms: Deine Meinung zum Playboy?

Matthias Kalle: Ich glaube, dass es gut ist, dass es ein Magazin wie den Playboy gibt. Sie müssen nur langsam die Kurve weg von diesen C-Prominenten kriegen und wieder das machen, für das vor allem der amerikanische Playboy vor Jahren stand: Frecher Journalismus, ausgezeichnete Autoren, hier und da sexy Fotos.

brainstorms: FAZ?

Matthias Kalle: Unter der Woche das beste Feuilleton Deutschlands. Am Sonntag sogar noch einen Tick besser.

brainstorms: Der Spiegel?

Matthias Kalle: Sie haben Osang, Kurbjuweit – was soll man da kritisieren?

brainstorms: Der Stern?

Matthias Kalle: Die machen einen guten Job, der Stern hat bestimmt seine Existenzberechtigung, nur interessiert mich einfach gar nichts, was da drin steht.

brainstorms: Letzte Frage: Die Zitty?

Matthias Kalle: Das beste Stadtmagazin Deutschlands.

Das Interview führte Sachar Kriwoj.

Link:
Zitty online

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