Inszenierung an der Komischen Oper Berlin

Jewgeni Onegin

24.07.2005

Tatjana lebt in einer Traumwelt der Bücher und der Musik. Sie will sich nicht abfinden mit der allgemeinen Genügsamkeit ihrer Umgebung, die ihre Mutter und die alte Amme Filipjewna unter der Devise »Der Traum vom großen Glück vergeht, doch dann gewöhnt man sich und lebt« propagieren. Als Tatjana den weltgewandten Jewgeni Onegin kennenlernt, glaubt sie, einen Ausbruchspunkt gefunden zu haben. Doch der sprunghafte junge Mann weist das Dorfmädchen ab. Andreas Homoki inszeniert Tschaikowskijs »Jewgeni Onegin« werktreu und modern in der Komischen Oper Berlin.

Im Hintergrund: Der bewegungsfreudige Chor
Foto: Monika Rittershaus/
Komische Oper Berlin
Die Einheitsbühne (Hartmut Meyer) ist ein Wartesaal, wie er in der globalisierten Welt überall vorkommen könnte. Der Chor sitzt in Reih und Glied auf standardisierten Hartschalenplastiksitzen. Immer wieder stehen Sänger auf und gehen ab, wie von einem unsichtbaren Regisseur oder einer Anzeigetafel aufgerufen. Eine Landschaft routiniert funktionierender Leben, vor deren Hintergrund der Regisseur den Konflikt zwischen Wunsch und Realität, Spiel und Ernst des Lebens stattfinden lässt. In Homokis Deutung ist Jewgeni Onegin der typische Metropolenbewohner: Er kommt aus Petersburg, er trägt coole Klamotten, er hat alles schon gesehen und er verachtet die Provinz. An einem Landei wie Tatjana ist er nicht interessiert. Er probiert sich aus. Er ist ein lebenslanger Spieler. Für ihn ist ein Spiel, was für seinen Freund Lenski tödlicher Ernst wird: Als Onegin mit Lenskis Verlobter Olga flirtet, kommt es zum Streit, der in eine Duellforderung mündet.

Der Chor, der die Gesellschaft repräsentiert, aus der sowohl Tatjana als auch Jewgeni ausbrechen wollen, beherrscht die Inszenierung. Am beeindruckendsten setzt Homoki ihn ein, wo er ihn nicht im Hintergrund versteckt, sondern ihn direkt ins Geschehen einbindet. Als Onegin Tatjana nach der Lektüre ihres Briefes abweist, reicht er das Schriftstück sehr beiläufig an den in dieser Szene nur aus Männern bestehenden Chor weiter: eine ungeheure Verletzung und Preisgabe Tatjanas. Dieser einfache Vorgang erzählt viel über eine emotionale Unbedarftheit, wie sie nicht nur Onegin auszeichnet: Er tut das nicht aus Bosheit, sondern aus Ignoranz den Gefühlen anderer Menschen gegenüber. Die Gesellschaft stürzt sich neugierig auf die Beute; man beurteilt fremde Gefühle und Schicksale nach ihrem Unterhaltungswert.

Solche Momente sind jedoch insgesamt zu selten in dieser Inszenierung. Zwar mag das geschäftige Hin- und Herlaufen des Chores ebenfalls ein treffendes Bild für die heutige Gesellschaft sein, doch wirkt das ständige Gerenne und Gewimmel auf der Bühne beim Zuschauen schnell ermüdend. Seine musikalischen Aufgaben erfüllt der Chor trotz seiner hohen Bewegungsbeanspruchung mit Bravour (Einstudierung: Matthias Böhm).

Tatjana und Onegin
Foto: Monika Rittershaus/
Komische Oper Berlin
Auch das homogene Solistenensemble überzeugt in dieser 7. Vorstellung. Da ist zunächst das musikalisch wie darstellerisch perfekt harmonierende ungleiche Freundespaar, energetisch und gleichzeitig differenziert verkörpert von Tom Erik Lie (Onegin) und Finnur Bjarnason (Lenski). Ihnen gegenüber stehen die Schwestern Tatjana (mit klarem Sopran: Eteri Gvazava) und Olga (kraftvoll: Caren van Oijen), mit viel Spielfreude, sogar mit komödiantischen Zügen, dargestellt. Ganz stark sind denn auch die Szenen, in denen die vier aufeinander treffen. Homoki ist mit diesem jungen Ensemble eine nicht nur musikalisch hochklassige, sondern auch eine höchst glaubwürdige Besetzung gelungen. Und auch die Nebenrollen lassen nichts zu wünschen übrig: Etwa Anne Bolstad als Mutter Larina, Neven Belamaric als Fürst Gremin und Peter Renz als Triquet. Besonders herauszuheben ist hier Diane Pilcher in ihren kleinen, aber feinen Partien als Amme Filipjewna. Das Orchester unter Kirill Petrenko musiziert gewohnt vital, jedoch manchmal ein bisschen zu schwungvoll: Gelegentlich scheinen Bühne und Musik nicht ganz zusammen zu gehen. Alles in allem ist dieser »Jewgeni Onegin« jedoch ein runder Abend, der hier und da szenisch noch etwas abwechslungsreicher sein könnte.

Nora Mansmann

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Komische Oper Berlin