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Des Widerspenstigen Zähmung

Sind Richter nur Hüter des strengen, engen Gesetzes, oder aber sind sie verpflichtet, Deutschland in einem guten Licht dastehen zu lassen?

Ist Recht gleich Gerechtigkeit? Das ist eine ewige Frage, und sie wird sich auch bis ans Ende der Menschheit immer wieder stellen. Die Antwort darauf fällt einem um so schwerer als das, was man unter Gerechtigkeit versteht, von Mensch zu Mensch naturgemäß variiert. Doch während man am Stammtisch seine Meinung über Gut und Böse lauthals geigen kann, gibt es Menschen, die das nicht ohne weiteres können: Richter. Der Richter hat nun einmal das Gesetz vor sich liegen und muss eine Entscheidung treffen, die sich genau daran und an nichts anderem sonst orientieren muss. Auch wenn sie gegen seine eigenen Überzeugungen geht. Ihn selbst tief berührt. Ihn wütend macht. Er ist vom Gesetz und durch seinen Beruf zu einer professionellen Zurückhaltung und Neutralität verpflichtet und darf nicht seine persönlichen Ansichten über das Gesetz und Recht stellen. Normalerweise gelingt es den Richtern auch. Es gibt aber einige wenige Themen in unserer Zeit, die in der Öffentlichkeit heftigst diskutiert werden und die manchmal auch Risse in den Betonmantel treiben, der die richterlichen Emotionen umhüllt.

So zum Beispiel das Thema Neonazis. Dies ist ein Thema, das so gut wie niemanden kalt lässt. Auch Richter hatten sich oft damit auseinanderzusetzen, und zwar insbesonders aus Anlass von NPD-Demonstrationen. Dabei sieht die Sache rechtlich ungefähr so aus: Demonstrieren kann in Deutschland jeder (Artikel 8 des Grundgesetzes). Solange er nur demonstriert. Gewalttätigkeiten während einer Demo sind ebenso verboten wie Beleidigunen oder das Verbreiten der Auschwitz-Lüge. Abgesehen von diesen Beschränkungen hat sich der Staat aus der Sache herauszuhalten, insbesondere darf er nicht entscheiden, welche Demo inhaltlich wertvoll ist und welche nicht. Der Staat ist in dieser Hinsicht neutral.

Davon ausgehend sagte die NPD im Januar 2001 der zuständigen Behörde, dass sie in Lüdenscheid in NRW demonstrieren wolle. Die Behörde hat es ihr aber verboten: Mit der Demo verstoße die NPD gegen die öffentliche Ordnung. Verwundert ging die NPD zum Gericht, in der Hoffnung, wenigstens dort Recht zu bekommen: Fehlanzeige! Das oberste zuständige Gericht in Münster zeigte sich "not amused" und sagte ebenso: Ihr dürft nicht! Die NPD wandte sich, alle Hoffnung verlierend, an die letzte Instanz in der BRD: das Bundesverfassungsgericht. Dort saßen höchstprofessionelle, kühl denkende Juristen und haben aus dem fernen Karlsruhe verkündet: Die NPD darf demonstrieren. Der Staat ist ja neutral. Solange während der Demo keine Gewalttätigkeiten oder sonstige Straftaten geschehen, ist alles paletti. Das war eine gut argumentierte, solide begründete und juristisch richtige Entscheidung.

Dadurch bestärkt und voller Selbstvertrauen, meldete die NPD kurz darauf, im März 2001, abermals eine Demo an. Und wieder gab's Probleme: Dasselbe Gericht in NRW hat es wieder nicht gestattet! Empört gingen die "entrechteten" Nazis erneut vor das Bundesverfassungsgericht. Liebes Gericht, sagten sie, du hast doch eben gerade gesagt, dass wir dürfen! Sie bekamen erneut Recht und durften demonstrieren. Beim nächsten Mal geschah schließlich etwas in der Geschichte der BRD noch nie dagewesenes: Das Gericht in Münster meinte ganz offen, dass es mit dem Bundesverfassungsgericht nicht einverstanden sei und seine (des Bundesverfassungsgerichts) Ansicht "für höchst problematisch" halte. Noch nie hatte ein "einfaches" Gericht es zuvor gewagt, die Meinung des Bundesverfassungsgerichts, des "Hüters des Rechts" in Deutschland, der Instanz, von der jeder Jurist mit gesenktem Haupt spricht, zu konterkarieren. Und nun also dieses Aufbegehren! Auch diese Entscheidung wurde sodann "von oben" verworfen. So ging es noch ein weiteres Mal, im Mai 2001, wobei das Bundesverfassungsgericht schließlich die Geduld mit dem widerspenstigen Gericht verlor und meinte, dieses "verkenne fortwährend und offensichtlich die grundrechtlichen Standards". Auf gut Deutsch also: Ihr seid doch alle doof und geistige Vegetarier; ihr solltet mal wieder in die Uni, bevor ihr UNS widersprecht!

Was ging dabei wohl in den Köpfen der rebellischen NRW-Richter vor? In ihren Entscheidungen schrieben sie, NPD-Demos sind mit der Menschenwürde nicht vereinbar; sie gefährden den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland und zeigen demonstrativ ihre Missachtung der für uns alle grundlegenden Werte. Sie schrieben, dieses Gedankengut ist gefährlich und darf nicht verniedlicht werden. Sie schrieben menschlich, gewissenhaft, leidenschaftlich, begründeten ihre Meinung immer aufs Neue und versuchten das Bundesverfassungsgericht zu überzeugen. Sie zeigten Anteilnahme an dem Leiden jener, die den Holocaust überlebt haben und jetzt zusehen müssen, wie Menschen mit gleicher Ideologie wie damals ihre Peiniger oder die ihrer Eltern und Großeltern fröhlich durch die Straßen marschieren und grölen. Das Bundesverfassungsgericht blieb hingegen kalt. Dabei kann man auf keinen Fall annehmen, dass die Richter dort etwa mit der NPD sympathisierten: Auf diesem ärmlichen intellektuellen Niveau bewegen sich die Verfassungsrichter nun wirklich nicht. Sie trafen ihre Entscheidung aber kühl-juristisch und ließen sich nicht beirren. Das untere Gericht traf seine Entscheidung menschlich. Es führte verzweifelt einen aussichtslosen Kampf, denn es war wahrscheinlich selbst von der juristischen Ungenauigkeit seiner Auffassung überzeugt. Dabei bestand der betreffende Senat des unteren Gerichts nicht aus irgendwem: Dort saß u.a. der Gerichtspräsident, der in dieser Eigenschaft auch der höchste Richter der Landes NRW ist. Vielleicht wollten die "Rebellen" ihrem Gewissen eine Stimme geben. Vielleicht wollten sie mit dem Mythos des unnahbaren, uninteressierten, gegenüber Nazis viel zu milden Richters aufräumen. Auch wenn man darüber geteilter Meinung sein kann, ob das die richtige Arena zur Austragung dieser Konfrontation war: Ihre Stimme ist jedenfalls in der juristischen Welt erhört worden und hat zu unzähligen Diskussionen geführt. Eine Änderung des Versammlungsrechts liegt in der Luft.

Alexander Archangelskij

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