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Wir in Deutschland

"Nation. Patriotismus. Demokratische Kultur in Deutschland 2002." Zu einem Gespräch über diese Themen lud die SPD am 8. Mai in das Willy-Brand-Haus ein. Denn darüber lohne es sich, zu sprechen - heute, 57 Jahre nach Kriegsende. Bundeskanzler Gerhard Schröder und der Schriftsteller Martin Walser wollten sich dieses Theams annehmen. Deutschland - eine normale Nation?

Schnell wurde im Vorfeld der Veranstaltung klar: Ob Deutschland, so wie es unser Bundeskanzler ausdrückte und zu sehen meint, wirklich eine normale Nation sei, ja oder nein - das Gespräch sollte jedenfalls kein normales werden. Kritik vom Zentralrat der Juden in Deutschland: Doch bitte nicht mit Martin Walser! Nicht zu diesem Thema, nicht an diesem Tag, diesem Ort. Zudem eine Protestkundgebung des "Bündnisses gegen Antisemitismus und Antizionismus" vor dem Gebäude. Die undurchsichtigen Wortschwaden, in die sich Walser vor vier Jahren in seiner Rede in der Frankfurt Paulskirche einhüllte, und die zu wochenlangen Diskussionen mit dem damaligen Zentralratsvorsitzenden Ignatz Bubis führten, haben sich nicht verzogen. Weiterhin herrscht Mißtrauen gegenüber dem Schriftsteller "Einer, der die Auseinandersetzung sucht, spricht, argumentiert, streitet", so der SPD-Generalsekretär Franz Müntefering in seiner Begrüßung zu und über Martin Walser. Seit dem Gespräch wissen wir zumindest eines mehr über Martin Walser: er fühlt.

"Über ein Geschichtsgefühl" - so überschrieb Walser seiner Rede. Was der Kanzler nicht nur als "Abstammungs-" sondern auch als "Abstimmungsgemeinschaft" bezeichnet, nennt Walser in erster Linie eine "Schicksalsgemeinschaft". Zugehörigkeit müsse man erleben, nicht definieren. Aus dem gemeinsamen Schicksal, der Geschichte entspringe ein Gefühl. Stellt sich jedoch die Frage, inwieweit sich Gefühle entwickeln können, ohne selbst (mit)erlebt zu haben. Sicherlich: Wer sich mit dem Holocaust beschäftigt, ohne dabei Gefühle zu verzeichnen, muß schon ein beunruhigend kalter Mensch sein, selbst wenn ihm das reale Erlebnis dieses Teils der deutschen Geschichte erspart geblieben ist. Aber schaut man auf längst vergangene, wenn auch damals zukunftsentscheidende Ereignisse zurück, in welchem Maße ist man in der Lage, darüber zu fühlen oder daraus wirklich sein "Geschichtsgefühl" zu erlangen?

Es hätte, darin sind sich Schröder und Walser einig, auch eine andere Möglichkeit als den Versailler Vertrag in seiner diktierten Form gegeben. Eine weniger demütigende, eine gerechtere. Eine, die in eine bessere Zukunft hätte weisen, vielleicht sogar führen können. Walser in seiner die Auseinandersetzung suchenden, vielleicht eben auch fühlenden Form: "Ohne Versailler Vertrag kein Hitler!" Ist es das, was er fühlt? Ist sie tatsächlich so einfach, die Formel der Geschichtsschreibung? Und: was fühlen denn die jüngeren Generationen in Gedanken an das Ende des ersten Weltkrieges, das Ende der "Mutterkatastrophe" (Golo Mann)? Inwieweit ist das Gefühl für die auch ferne Vergangenheit verantwortlich für das Nationgefühl eines jeden einzelnen?

Wie auch immer, ein Konsens sollte in diesen Frage nicht erreicht werden. Den einen (Walser) belasten weiterhin Instrumentalisierung und eine ständiges, fast schon krampfartig anmutendes Verlangen nach dem Gebrauch des Worts "Auschwitz"; der andere (Schröder) will nach angemessener Erinnerung an den historischen Tag der Befreiung lieber über das Heute sprechen. Deutschland sei heutzutage auf "die Werte der Freiheit und der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Teilhabe gebaut". Und wir hätten ein "kritisches Selbstbewußtsein", müßten diese auch haben, "das sich niemandem überlegen fühlt, aber auch niemandem unterlegen fühlen muß." Ob Deutschland nun tatsächlich eine normale Nation sei, zudem auch die immer wiederkehrende Frage, was denn überhaupt "normal" ist, wurde, wie wohl auch von niemandem erwartet, nicht geklärt. Über das Thema zu sprechen, lohnt sich wie in der Einladung geschrieben, allemal. Wie das Thema hingegen zu behandeln ist und mit wem, darüber darf, muß und wird noch gestritten werden. Und wäre damit nicht schon die Frage beantwortet: Ist Deutschland eine ganz und gar normale Nation?

Tobias Händler

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